Jean Vanier entschied sich 1980, von seinem Amt als Direktor der Arche-Gemeinschaft in Trosly in Nordfrankreich zurückzutreten und eine einjährige Auszeit einzulegen. Im November des folgenden Jahres zog er nach La Forestière, einem 1978 eröffneten Haus der Arche für Menschen mit schweren Behinderungen. Das war schon seit langem ein Traum von ihm gewesen.

La Forestière, umgeben von Wald, wie der Name schon andeutet, war ein neues, einstöckiges, um einen hellen zentralen Innenhof herum angelegtes Gebäude. Durch die großen Erker, die sich zum Garten hin öffneten, flutete Licht hindurch. Es gab einen großen Raum mit Kamin, wo man für eine Tasse Kaffee oder zum Abendgebet innehalten konnte. Es hatte eine kleine Kapelle mit einem sehr niedrigen Altar, der es einem behinderten Menschen, der auf den Knien eines auf dem Boden sitzenden Assistenten lag, ermöglichte, das Geschehen zu beobachten. Es herrschte eine friedliche Atmosphäre. Die Menschen hier ließen sich Zeit; die Gemeinschaft schien sich im Zeitlupentempo zu bewegen. Dies war ein Ort, an dem es viel Zeit gab, einander nah zu kommen, so dass jemand, der blind und taub war, eine Person, die sich ihm näherte, berühren konnte. Genug Zeit, um Eric - einen Bewohner, dessen Körper durch Behinderung und Verzweiflung zusammengekrümmt war - zu baden, langsam seine Gliedmaßen zu lockern, ihn das warme Wasser spüren und mit der Seife spielen zu lassen, ihn zu waschen. Es gab genügend Zeit, Lucien zu füttern, damit er die Freude verspüren konnte, Essen zu schmecken, zu schlucken und zu riechen. Diese gebrochenen Körper wurden mit Achtung und Zärtlichkeit berührt. Während jemand dabei war, den Speichel, der Henriettes Kinn herunter tropfte, sanft abzuwischen, ergriff ein anderer sanft die Hand von Loïc, der sich gerade heftig auf die Nase geschlagen hatte. Sie hielten ihn ohne Härte zurück, respektierten, was er durch sein Handeln auszudrücken versucht haben könnte, und versicherten ihm, dass er gehört worden sei; dass er nicht allein sei.

In La Forestière muss man lernen, die Sprache des Körpers zu verstehen. Es ist eine Sprache der Zärtlichkeit und Verletzlichkeit. Unser Körper, der in Leistungssport und Mode auf ein Podest erhoben wird und in Krankheit, Altern und Behinderung Verachtung erfährt - derselbe Körper ist, so schreibt der Apostel Paulus, ein Tempel des Heiligen Geistes. Der gebrochene Körper ist also ein gebrochener Tempel, der das Licht Gottes leichter hindurchdringen lässt. Jean Vanier weiß, dass das Evangelium die Geschichte eines Gottes ist, der sich dafür entschied, in menschlicher Gestalt, mit all ihrer Gebrochenheit und Verletzlichkeit, zur Welt zu kommen:

Das Wort nahm nicht die Gestalt des Fleisches an
so wie man etwa ein Kleidungsstück anzieht,
nur um sich seiner dann wieder zu entledigen;
es ist Fleisch, das göttlich wird,
das zu dem wird, mit dem sich dieses Leben der Liebe
von Gott
in Gott
mitteilt.
Dieses Leben ist kein Konzept, das man erlernen kann,
sei es aus Büchern oder von Lehrern;
es ist das Gegenwärtig-Sein der einen Person für den anderen,
die völlige Hingabe des einen an den anderen,
von Herz zu Herz,
in einer Gemeinschaft
der Liebe.

So wie Franz von Assisi durch die Begegnung mit Aussätzigen „eine neue Sanftheit in seinem Körper und Geist“ entdecken konnte, stellte La Forestière einen entscheidenden neuen Schritt im Leben von Jean Vanier dar. Ein Jahr lang erlebte er den Lebensrhythmus dieser schwerbehinderten Männer und Frauen - den Rhythmus von Eric zum Beispiel, einem Siebzehnjährigen, der blind, taub und unfähig war, selbst zu laufen oder zu essen. Mit vier Jahren war er in einem Krankenhaus ausgesetzt worden und sehnte sich nun so verzweifelt nach menschlichem Kontakt, dass er sich mit der ganzen Kraft seiner Arme an jeden klammerte, der nahe genug an ihm vorbei ging. Jean entdeckte, dass Eric all die Liebe, die er ihm erwies, erwiderte. Jean wusch, kleidete, fütterte und beruhigte ihn und versicherte ihm dadurch, dass er geliebt und liebenswert war. Seinerseits vermittelte Eric Jean eine neue Form des Friedens. Jean schreibt:

In La Forestière zog ich jeden Abend nach dem Abendessen Eric seinen Schlafanzug an, dann verbrachten wir eine halbe oder dreiviertel Stunde im Gebet, wir alle zusammen im Wohnzimmer, sowohl die behinderten Menschen als auch die Assistenten. Ich saß oft mit Eric auf meinen Knien; er ruhte sich aus. Und ich entdeckte, wie ich an seiner Ruhe teilhatte. Ich hatte nicht das Bedürfnis zu sprechen. Ich hatte Frieden, eine innere Stille. Auch er hatte Frieden; auch er fühlte sich wohl. Es war ein Augenblick der Heilung. Ich hatte eine innere Harmonie wiedergewonnen.

Aber in den Momenten, in denen Eric zusammenbrach, heulte und sich krümmte, in denen nichts ihn beruhigen konnte und ihn die Dunkelheit überwältigte, entdeckte Jean Vanier, dass sich in ihm selbst eine Tür öffnete zu einem Ort in seinem Herzen, wo Not, Angst und Gewalt verborgen waren. Er entdeckte in sich selbst ein Reich des Chaos und des Hasses, das er sorgfältig hinter seiner Bildung und seiner Intelligenz versteckt oder unter seiner Arbeit und seinen Projekten vergraben hatte.

Die Reflexion über solche Angst findet sich im Denken von Jean als wiederkehrendes Thema. Er erkannte sie als einen unentrinnbaren Teil unserer menschlichen Existenz. „Kühe haben keine Angst“, scherzte er. Diese tiefe Angst kann plötzlich, bei der geringsten Erschütterung, aus einem verborgenen Teil unseres Wesens emporsteigen, zusammen mit der Gewalt, die sie produziert. Jean sagt, er spüre auch heute noch in sich, dass diese Angst „wie eine tickende Bombe in uns ist, die uns zwingt, um Hilfe zu bitten“.

Die Entdeckung seiner eigenen inneren Gewaltbereitschaft ermöglichte ihm, die Ähnlichkeiten zwischen sich und den von ihm betreuten geistig behinderten Menschen zu erkennen, Ähnlichkeiten, für die er zuvor blind gewesen war. Er fühlte sich, als wäre er von einem unsichtbaren Podest gestoßen worden – dem seiner Gutherzigkeit - was demütigend, aber auch befreiend ist. „Ich wurde von Angesicht zu Angesicht mit meiner eigenen tiefsten Realität, mit meiner eigenen Wahrheit konfrontiert … Ich fange an, ich selbst zu sein. Ich spiele nicht mehr den großen und mächtigen Erwachsenen, der nach dem ersten Platz, nach Erfolg und Bewunderung strebt; ich mache mir keine Sorgen mehr um den äußeren Schein. Ich erlaube mir, das Kind zu sein, das ich bin, das Kind Gottes.“

In La Forestière geht es also nicht mehr um Jean Vanier und Eric - den Erwachsenen und das unglückliche Kind -, sondern um „zwei Kinder, die ein Spiel der Seele spielen“, ein Spiel, das uns, wie der Dichter Pierre Emmanuel es ausdrückt, mit „den Gefilden der Ewigkeit" verbindet, wo alle Quellen der Liebe ihren überreichen Ursprung finden. Gemeinschaft - dieses andere Wort für Liebe - erlaubt uns, gemeinsam in Gott, der Liebe selbst, zu sein; er vereint uns und bringt uns zusammen. Eric ruft dieses Geheimnis des Friedens und der Einheit in jedem hervor, der ihm nahe kommt und sich für ihn Zeit nimmt, denn um mehr bittet er nicht, und er versucht nicht, jemanden zu kontrollieren, zu beherrschen oder zu benutzen.

Durch seine Beziehung zu Eric konnte Jean Vanier endlich jenen Satz aus den Evangelien verstehen, den er schon so oft gehört hatte: „Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat. Denn wer der Kleinste ist unter euch allen, der ist groß.“ (Lk 9,48) Jean reflektierte diesen Gedanken noch einmal in einem Rundbrief: „Das ist das Geheimnis, das uns heute in der Arche offenbart wird: Der ärmste Mensch führt uns direkt zum Herzen Gottes. Der Kleinste heilt unsere Wunden, manchmal, indem er sie uns schmerzhaft offenbart. Und diese Heilung und dieses Erleben Jesu und seines Vaters entstehen durch das gegenseitige Vertrauen, das in der Beziehung von Herz zu Herz zwischen uns wächst.“


Fotos von https://www.jean-vanier.org. Übersetzung von Birgit Currlin.